Kann man mit Liebe einen „tiefgefrorenen“ Menschen auftauen?

Er will mit mir zusammen sein, jedoch will er mich nur selten sehen. Das Hauptproblem ist aber, dass er so eine Kälte ausstrahlt

Er ist sehr unterkühlt, emotional kalt, gefühlskalt, unfähig zu lieben

Liebe Beatrice,
meine Frage ist folgende: Kann man mit Liebe einen „tiefgefrorenen“ Menschen auftauen? Der Sachverhalt ist der: Vor einem Dreivierteljahr habe ich einen Mann kennengelernt. Auf beiden Seiten hat es sofort gefunkt. Aber schon in den ersten Minuten spürte ich, dass er eine unerklärliche Angst davor zu haben scheint, Gefühl zu zeigen. Er rechtfertigte sich für alles Gute, was er sagte, und schien innerlich sehr angespannt und unsicher zu sein. Wir kamen und blieben dennoch zusammen, weil ich seine Ängste ignoriert habe, was ihn dazu bewog, sich vorsichtig weiter vorzuwagen.
Jedoch trennen uns leider Gottes gut 800 km. Er lebt im tiefsten Bayern. Er ist eine rauhe „Holzfällernatur“, aber sehr geradlinig und ehrlich. Er hat einen sehr guten Kern in sich, auch Liebe, aber nach außen gibt er sich wie ein Kühlschrank. Wir telefonieren viel, sehen uns aber nur sehr selten aufgrund der Entfernung. Im Laufe der Zeit erzählte er ein wenig von sich. Ist völlig ohne jede Liebe aufgewachsen, hat Angst vor Hunden und früher auch vor Frauen. Er sagte, er habe wahnsinnige Minderwertigkeitsgefühle gehabt in jungen Jahren. Sagt, dass er gerne mit mir leben würde. Nun ist es aber so, dass wir beide jobmäßig fest verankert sind. Er sagt, er würde mir einen Umzug nicht zumuten wollen und er wäre derjenige, der daheim alles hinschmeißen müsste und würde, wenn es mit uns passt.

Das richtige Kennenlernen ist natürlich schwer bei so wenig Zeit, die man miteinander hat. Seine Ängste vor mir hat er, wie er sagt, abgelegt. Er will der Sache dennoch Zeit geben und ich auch. Aber mein Hauptproblem ist seine Kälte, die er ausstrahlt. Zärtliche Berührungen kommen nur in Verbindung mit Sex von ihm. Da liebt er dann mit Leib und Seele, gibt sich ganz dem Gefühl hin, schaut mir dabei in die Augen, die so viel sagen. Aber wir können nebeneinander auf einer Bank sitzen, da legt er nicht mal den Arm um mich.
Weil ich selbst auch immer Angst vor Gesichtsverlust habe, habe ich bisweilen weder ihn angesprochen, noch ihn einfach berührt. Er kennt ja keine Liebe. Wenn er so bliebe, sehe ich für uns keine Zukunft, denn ich brauche Wärme und Geborgenheit. Kann es nun sein, dass wenn ich anstatt genauso frostig dazusitzen, einfach ihm meine Liebe zeige, dass er dann irgendwann auftaut und das schön findet? Merkt er dann erst, was er all die Jahre versäumt hat, oder könnte es ihm eher unangenehm werden?
Ich weiß wirklich nicht, was ich machen und auf was ich mich einstellen sollte. Ich habe ihn sehr sehr lieb und fallen lassen möchte ich ihn keinesfalls. Auch für ihn würde dann wieder eine Welt zusammenbrechen. Aufgrund seiner schwierigen Art hat er schon genug Enttäuschungen erlebt.
Liebe Grüße, Tadjana (38)

Liebe Tadjana,
du schreibst:
„Weil ich selbst auch immer Angst vor Gesichtsverlust habe, habe ich bisweilen weder ihn angesprochen, noch ihn einfach berührt. Er kennt ja keine Liebe. Wenn er so bliebe, sehe ich für uns keine Zukunft. … Kann es nun sein, dass wenn ich, anstatt genauso frostig dazusitzen, einfach ihm meine Liebe zeige, dass er dann irgendwann auftaut und das schön findet? Merkt er dann erst, was er all die Jahre versäumt hat? Oder könnte es ihm eher unangenehm werden?“
Nun, die Rechnung ist ganz einfach:
Wenn du sowohl sagst als auch zeigst, was du möchtest und was er tun soll, besteht ein kleines (sehr kleines) Risiko, dass er sich zurückzieht (also die Beziehung endet). Wahrscheinlicher ist, dass er das meiste davon schön findet – nicht alles, aber fast alles. Wenn du es nicht tust, endet sie auf jeden Fall. Denn woher soll er denn wissen, was er tun soll, wenn er es weder gelernt hat noch du es ihm sagst und zeigst?!
Es ist Angst vor Ablehnung, die dich stumm und starr werden lässt – also wenn er nicht deinen Erwartungen entsprechend reagieren würde, würdest du dich persönlich abgelehnt fühlen. Diesen Punkt musst du dir immer wieder klar machen und die entsprechenden Gedanken hinterfragen und korrigieren. Denn wenn er zu wenig positiv auf deine Aktionen reagiert, bedeutet das natürlich NICHT, dass er dich ablehnt, sondern dass er mal wieder unsicher ist.

Derzeit mache ich Intensivberatung bei einem 41jährigen Mann, der in den erwähnten Punkten genauso ist wie dein Freund und der in seiner grade zerbrochenen Beziehung exakt das selbe Verhalten zeigte – und seine Ex leider auch wie du: sie sagte nichts, sie tat zu wenig. Aber irgendwann war sie so frustriert, dass ihre Liebe komplett verschwunden war und sie sich trennte. Er würde alles tun, um sie wiederzukriegen, aber von ihrer Liebe ist nichts mehr da. Dabei hätte er gern gehört und gelernt, was er tun muss, um mehr Wärme und Zärtlichkeit geben zu können.
Sprich: Du musst definitiv Klartext reden. Und dann musst du es ihm beibringen und ihm eine geduldige und liebevolle Lehrmeisterin sein! Aber nicht lehrerinnenhaft, also belehrend und als ob er ein unwissender Depp wäre, sondern eher als ob er ein wundersames Wesen von einem anderen Stern wäre. Überlege dir jeweils genau, was du gern von ihm hättest bzw. was er an seinem Verhalten korrigieren könnte, und dann teil´s ihm mit, respektvoll und humorvoll.
Nochmal: Mach dir nichts draus, wenn er mal nicht wunschgemäß reagiert. Für einen längst erwachsenen Mann ist es nicht immer leicht, etwas beigebracht zu bekommen, was eigentlich jede/r 17jährige kann. Ferner ist er es noch nicht gewohnt. Ja, es ist möglich, viele „tiefgefrorene“ Menschen durch Liebe aufzutauen – leider längst nicht alle, aber bei deinem bestehen gute Chancen! Allerdings brauchst du dazu auch eine große Portion innere Gelassenheit und Akzeptanz. Der Auftau-Prozess kann sich über Jahre hinziehen. Bitte lest zusammen auch folgende Bücher:
Vom Jein zum Ja!: Bindungsangst verstehen und lösen. Hilfe für Betroffene und ihre Partner

Das Kind in dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme

Liebe Grüße,
Beatrice Poschenrieder

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