Er hat ein seltsames Leiden, das unsere ganze Beziehung kaputtmacht

er kann nicht auf eigenen Beinen stehen

Hallo Beatrice,
seit fast 3 Jahren bin ich nun mit meinem Freund (36) zusammen.
Wir haben uns über das Internet kennengelernt und bei ihm hatte ich zum ersten Mal das sichere Gefühl, mit diesem Mann mein weiteres Leben planen zu wollen. Doch dieses Gefühl wird leider überschattet… Mein Freund leidet, seitdem wir zusammen sind, an unerklärlichen Störungen beim Gehen, er kann sich nicht auf den Beinen halten; eine ganze Palette an Krankenhaus-und Arztbesuchen hat er schon hinter sich.
Nichts hat zum Erfolg geführt… keine Diagnose bis zum heutigen Tag!! Er wurde z.B. ausführlich auf Multiple Sklerose und andere Nervenleiden untersucht, völlig ergebnislos.
Er ist nun seit über einem Jahr krankgeschrieben und ist den ganzen Tag in seiner Wohnung. Klar, dass man da depressiv wird …

Am Anfang unserer Beziehung war ich noch sehr optimistisch, dass wir diese schwierige Situation schon meistern werden, aber momentan nervt mich nur noch alles… versuche es Dir zu erklären. Wir wohnen noch nicht zusammen und sehen uns nur am Wochenende. Die Wochenenden verbringen wir nur in der Wohnung, da er sich nicht auf den Beinen halten kann, er zieht sich immer mehr von mir zurück, wir gehen nirgendwo hin, sitzen nur vor dem Fernseher, Sexleben gibt es keins mehr, Freizeitgestaltung gleich null, Freunde haben sich auch schon alle zurückgezogen…
Wir haben schon oft versucht, über die Situation zu sprechen, aber es endet mittlerweile meistens in einem Streit. Dazu kommt, dass ich seit Anfang unserer Beziehung kaum etwas anderes höre als das Thema seiner Krankheit! Ich weiß, dass er nichts dafür kann und er es sich auch nicht ausgesucht hat, aber es zerrt einfach an meinen Nerven und ich merke, wie unsere anfängliche Vertrautheit und Zusammengehörigkeit immer mehr schwindet… Telefonate, die wir aufgrund unserer Entfernung täglich führen, enden auch meist mit Frustration. Ich habe schon Angst, ihn anzurufen.
Was mich auch noch so frustriert, ist, dass bei keinem Arztbesuch etwas Verwertbares herauskommt … mittlerweile erwische ich mich sogar dabei, dass ich ihn dafür verantwortlich mache …

Ich will diesen Mann einfach nicht verlieren und ich weiß, dass wir ohne seine Krankeit super harmonieren würden… WAS SOLL ICH TUN?
Ehrlich gesagt, finde es unerträglich zu wissen, in unserer Beziehung ständig auf der Stelle treten zu müssen und kein Vorankommen stattfindet. Verstehst Du… es passiert ja nichts, in keiner Hinsicht.
Ich denke ja in meinem Alter auch schon mal an Familienplanung, aber unter diesen Voraussetzungen ist das gar nicht möglich… Es gibt einfach keine schönen Momente, auf die man sich mal freuen könnte, wie z.B. ein Kinobesuch, einen Abend mit Freunden o.ä.
Habe ihm auch schon vorgeschlagen, gemeinsam zu einer Beratung zu gehen, aber er ist nur mit seiner Krankheit beschäftigt. Was ich ja auch verstehe, denn mittlerweile geht es ja um den eventuellen Verlust seines Arbeitsplatzes… Aber er hat auch noch nie allein für sich psychologische Hilfe gesucht, obwohl ihm glaub ich alle Ärzte dazu raten.
Bin einfach so frustriert und verzweifelt, wie soll ich damit umgehen???
Delia (30)

Liebe Delia,
ich finde es schockierend, dass er trotz des hohen Leidensdrucks, den nicht nur er selber hat, sondern auch du, lieber dauernd zu Ärzten geht statt auch nur ein einziges Mal psychologische Hilfe in Anspruch nimmt. Vermutlich wehrt er sich dagegen, weil dann herauskommen könnte, dass sein Leiden psychosomatisch ist und er eine gründliche Psychotherapie machen muss, und genau dem geht er tunlichst aus dem Weg! Leider gibt es nicht wenige Leute, die lieber jahrelang (teils lebenslang) ein chronisches Leiden mit sich herumschleppen als an die Leichen ihn ihrem Keller zu gehen! Und es gibt ihnen eine Menge Entschuldigungen, z.B. dass sie nicht aktiv werden, dass sie keine Verantwortung für sich (und andere) übernehmen müssen, dass sie buchstäblich nicht auf eigenen Beinen stehen müssen. Und es dreht sich alles um sie.
Von daher liegst du mit deinem Gefühl wahrscheinlich gar nicht so falsch, dass du allmählich denkst, es liegt an ihm selber.
Du sagst: „Ich weiß, dass wir ohne seine Krankeit super harmonieren würden…“
Bist du sicher? Mir kommt er vor wie ein passiver Jammerlappen, der nur um sich selbst kreist. Von Charakerstärke zeugt das nicht grade! Längst nicht alle kranken Leute verhalten sich so!
Außerdem könnte er trotz seines Handicaps mit dir eine viel bessere Beziehung führen, als er es tut. Er könnte trotzdem mit dir rausgehen (was machen, wo man halt nicht stehen muss), Freund treffen oder einladen, er könnte Sex mit dir haben (für die meisten sexuellen Aktivitäten braucht man keine Beine!), er könnte sich mehr um dich kümmern, statt dauernd um sein leiden zu kreisen usw.; er könnte sich auch einen Rollstuhl verschreiben lassen und dadurch mehr mit dir unternehmen. (Die meisten Querschnittgelähmten sind deutlich aktiver als er! Er verhält sich eher wie ein hilfloses Baby.)
Stattdessen: „Die Wochenenden verbringen wir nur in der Wohnung, da er sich nicht auf den Beinen halten kann, er zieht sich immer mehr von mir zurück, wir gehen nirgendwo hin, sitzen nur vor dem Fernseher, Sexleben gibt es keins mehr, Freizeitgestaltung gleich null, Freunde haben sich auch schon alle zurückgezogen…“
Bei euch fehlen die Grundlagen für eine richtige und erfüllte Beziehung, von daher… Ich tu sowas ungern, aber ich bin der Meinung, dass NIEMAND sich aufopfern sollte für eine Beziehung, niemals! und schon gar nicht für eine dermaßen unerfüllte Beziehung… also von daher rate ich dir, dich allmählich von diesem Mann zu lösen.
Selbst wenn er morgen bereit wäre, eine Therapie anzufangen, würde es viele Jahre dauern, bis er seine Dinge im Griff hätte – oder es kann auch sein, dass er nicht die richtige Therapie hat oder sie nicht annimmt. Dazu kommt, dass er ja keineswegs morgen damit anfangen wird. Das heißt, bis er EVENTUELL mal so weit ist, dass er mit dir eine erfüllte Beziehung haben kann, bist du vermutlich Ende 30 oder noch älter. Und stellst dann vielleicht fest, dass es immer noch hinten und vorne hakt und er das meiste dir auflädt.
Die Loslösung wird dir den Mut geben, ihn ganz offen mit all deinen Gedanken, deiner Frustration, deinen Wünschen zu konfrontieren. Denn die sind ja alle total berechtigt! Und dann hast du auch die Kraft, ihm die Pistole auf die Brust zu setzen:
1) Er muss so bald wie möglich einen Termin sowohl bei einem Psychotherapeuten als auch in einer psychosomatischen Klinik machen,
2) er kann schon jetzt alles Mögliche tun, um die Beziehung für dich besser zu gestalten. Inklusive Sex.

Alles Liebe und Gute
Beatrice Poschenrieder

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