Ich bin einsam, traue mir nichts zu, mir fehlt einfach nur Liebe!
Ich lerne einfach niemand kennen, keinen Mann, keine Frau. Keiner liebt mich, nicht mal meine Eltern, bin ganz verloren auf dieser Welt…
Hallo Beatrice!
Ich lerne einfach keinen kennen.
Eigentlich glaube ich, dass mir nur Liebe fehlt, die ich als Kind von meiner Familie nie bekommen habe. Sie streiten die ganze Zeit nur und kümmern sich mehr um meine Geschwister als um mich. Wenn ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sitze und weine, merkt es noch nicht mal jemand. Vielleicht wäre ich mit ein bisschen mehr Liebe heute anders geworden und irgendjemand wäre mal stolz auf mich, wenigstens ein einziges Mal nur.
Ich trau mir auch nichts zu und bin schon ziemlich am Ende, da ich mir selber nicht mehr helfen kann.
Ich habe schon daran gedacht zu einem Therapeuten, Psychologen oder Psychiater zu gehen. Wohne aber in einem sehr kleinen Dorf, wo ich fast nicht rauskomme.
Ich bin seelisch schon total am Ende und wollt dies einfach mal jemandem mitteilen, der mich nicht kennt und mir ehrlich sagt, ob ich noch normal bin… da ich auch oft angelogen und ausgenutzt werde.
Miriam (18)
Liebe Miriam,
ich hoffe, du bist jetzt nicht mehr so deprimiert wie zu dem Zeitpunkt, als du mir den Brief geschrieben hast. Ich meine, du hast sicher Grund, auf dich stolz zu sein, denn du bist feinfühlig. Du hast sicher noch viele andere gute Eigenschaften, aber die kann ich leider nicht beurteilen, denn ich weiß ja nicht so viel von dir.
Ich denke auch, dass dir die Liebe fehlt. Aber ich glaube nicht, dass du darüber verzweifeln musst. Man kann selbst etwas dazu tun, um geliebt zu werden. Und zwar “liebenswert” sein im wahrsten Sinne des Wortes.
In mancher Hinsicht bist du sicher jetzt schon sehr liebenswert, denn du schreibst, dass du oft ausgenutzt wirst. Leute, die ausgenutzt werden, geben mehr als sie nehmen, und das ist eigentlich eine gute Eigenschaft. Allerdings wenn man zu wenig zurückbekommt, dann muss man den Mund aufmachen und dem anderen (freundlich) sagen, was man erwartet – oder demjenigen einfach nichts mehr geben.
Ich weiß ja nun auch nicht genau, was in deiner Familie abgeht, aber was du da erzählst, klingt ja nicht schön. Vielleicht besteht ja die Möglichkeit, dass du in absehbarer Zeit ausziehst und dein eigenes Leben lebst, zum Beispiel in einer WG – da bekommst du wahrscheinlich mehr Zuneigung und Ausgeglichenheit als jetzt. Das wäre dann schon mal etwas, worauf man sich freuen kann, wenn´s zuhause mal wieder ganz schlimm ist.
Du schreibst: “Eigentlich glaube ich, dass mir nur Liebe fehlt, die ich als Kind von meiner Familie nie bekommen habe. Vielleicht wäre ich dann heute anders geworden und irgendjemand wäre mal stolz auf mich, wenigstens ein einziges mal nur.”
Miriam, es liegt in deiner Hand, das zu ändern! Du bist kein Kind mehr, du kannst heute selber denken und für dich entscheiden, ob du auf dich stolz sein kannst! Fang an, dich selbst zu akzeptieren und zu mögen! Wenn deine Familie nicht in der Lage ist, dir Liebe zu geben, so gib dir selber diese Liebe. Ich weiß, das klingt jetzt irgendwie blöd und vielleicht abgedroschen, aber ich habe es selber erlebt, dass es geht. Ich habe mich früher auch ungeliebt gefühlt, aber irgendwann ging mir auf, dass ich mich nicht von der Zuneigung bestimmter einzelner Menschen abhängig machen muss. Es kommt drauf an, dass man den anderen mit Respekt und Freundlichkeit entgegentritt, aber eben auch für sich selber einsteht – weil man sich selber respektiert.
Wenn du dich selber respektierst und dich als wertvollen Menschen betrachtest, dann werden das auch die andern spüren. Sie werden allmählich nicht mehr versuchen, dich auszunutzen.
Noch ein Wort zum Thema “auf sich stolz sein”: Du kannst zum Beispiel eine Liste machen mit lauter Sachen, auf die du stolz sein könntest, wenn du sie verwirklichst. Das kann alles Mögliche sein, z.B. “jemandem helfen”, “eine Freundin trösten, wenn sie deprimiert ist”, “meiner Mutter eine Freude machen”, “in irgendeiner Sache, die ich gut finde, richtig gut werden”, “ein paar gute Leistungen in der Schule haben”, “einen bestimmten Sport oder ein bestimmtes Hobby anfangen”, “es schaffen, jemandem länger als eine Sekunde in die Augen zu sehen”, “es schaffen, einen Fremden / eine Fremde anzulächeln” und so weiter. Nimm dir vor, jeden Tag oder alle zwei Tage etwas davon umzusetzen. Ich schwöre dir, es wird dir sehr viel bringen!
Das Ding ist eben: Wenn du deine Situation mit den Jungs verändern willst, musst du dich selbst verändern. Und das geht tatsächlich viel besser und schneller mit Hilfe eines Psychotherapeuten (Psychologen und Psychiater sind vor allem für Diagnosen da, Therapeuten für Heilungsprozesse). Selbst in einem kleinen Dorf gibt es Möglichkeiten, z.B. mit dem Bus in einen größeren Ort zu fahren. Aber du brauchst eh erst mal die Überweisung von deinem Hausarzt. Geh zu ihm/ihr und sprich mit ihm/ihr, das ist der erste Schritt.
Ich könnte dir noch viel sagen, aber das würde den Rahmen dieser Beratung sprengen. Praktische Tipps und gute Übungen zu den Themen “sich selber akzeptieren”, “Kontakt knüpfen”, “zu sich stehen”, “Freundschaften schließen und pflegen” kann dir auch ein/e Therapeut/in vermitteln, und zum Teil auch Bücher.
Alles Liebe und Gute
Beatrice Poschenrieder