Helfersyndrom: Statt bei dem, den ich liebe, bin ich bei dem, der mich braucht
Hallo Beatrice,
ich werde noch verrückt und eigentlich müsste es doch sooooo einfach sein. Dies beschreibt zu 100 %, wie ich momentan fühle. Vor ca. 3 Jahren war ich als Au-Pair in Kanada, wo ich einen Mann kennenlernte. Nick war der Mann meines Lebens, ich meine, ich habe für ihn Gefühle wie sonst für keinen anderen vor oder nach ihm. Er ist einfach mein Gegenstück. Doch dadurch, dass ich nach meinem Au-Pair-Aufenthalt wieder zurück nach Deutschland gehen musste, um zu studieren, fingen viele Schwierigkeiten an. Meine Eltern verhielten sich mir gegenüber etwas distanziert, weil sie wussten, dass ich mit dem Gedanken spielte, nach Kanada auszuwandern. Das machte mich total alle. Nick war sich unserer Beziehung auch nicht so sicher wie ich, da ihm die Distanz sehr zu schaffen machte.
Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Nick mich nicht braucht, um sein Leben zu meistern. Das mag seltsam klingen, aber das war der Hauptgrund, warum ich dann Schluss machte. Ich hatte nämlich einen Freund an der Uni gefunden, Tom, bei dem im Leben so ganz und gar nichts stimmte, und da habe ich mich berufen gefühlt ihm zu helfen. Ich habe Nick einfach verlassen, weil er mich ja eh nicht brauchte, und bin zu Tom geflüchtet.
Nach und nach brachte ich mit Tom sein Leben in Ordnung, meine Eltern hatten wieder ganz normal Kontakt zu mir. Nur eins fehlte in meinem Leben, Nick! Ich hatte über 8 Monate keinen Kontakt zu ihm gehabt und er ging mir einfach nicht aus dem Kopf, bis ich ihm eines Tages eine Mail aus einem fadenscheinigen Grund schrieb. Wir sind nun seit mehr als drei Monaten in Kontakt zueinander und ich habe festgestellt, dass er mich auch nicht vergessen kann. Ich weiß, dass ich mit ihm glücklich werden würde, doch es gibt ja noch Tom. Er ist hier, wo ich wohne, er erdrückt mich mit seinen Liebesschwüren und macht es mir unmöglich, ihn zu verlassen. Letztes Mal als ich es versucht hatte, da hat er einen Nervenzusammenbruch gehabt.
Warum kann ich also von dem Menschen, den ich nicht liebe, der mich aber braucht, nicht weg, um dahin zu gehen, wo mein Herz bereits ist?
Ich quäle mich täglich mit dieser Frage und finde nicht die Kraft etwas zu unternehmen. Ich weiß aber auch eh nicht, was.
Nick weiß von Tom, aber Tom weiß nicht von Nick. Ich bin ehrlich zu Nick, aber Tom versuche ich stets zu entlasten, wo es nur geht.
Was stimmt mit mir nicht? Warum kann ich mich nicht einfach mal an erste Stelle stellen und Tom Tom sein lassen? Ich will doch auch wieder so glücklich sein wie damals, als ich mit Nick zusammen war.
Wie kann ich jemanden verlassen, der seelisch etwas labil ist?
Was denkst Du über all dies???
Zarah (24)
Liebe Zarah,
du fragst:
“Warum kann ich also von dem Menschen, den ich nicht liebe, der mich aber braucht, nicht weg, um dahin zu gehen, wo mein Herz bereits ist?”
Ich schätze, weil du von irgendwem in deiner Kindheit gelernt hast, dass “Liebe” oder eine “richtige Beziehung” darin besteht, dass einer den andern dringend braucht. Aber Tatsache ist: Wie viele Leute verwechselst du Liebe mit Abhängigkeit. Tatsache ist, dieser Tom ist einfach nur abhängig von dir. Ob er dich wirklich liebt, ist fraglich, denn jemanden zu erdrücken und emotionell zu erpressen, das lässt sich für mich nicht mit “wahrer Liebe” vereinbaren.
Dazu kommt wahrscheinlich, dass du einerseits ein so genanntes “Helfersyndrom” hast, andererseits du vielleicht nur dann eine Beziehung zulassen kannst, wenn du das Gefühl hast, die Überlegene zu sein; oder netter ausgedrückt, du willst gebraucht werden, um überhaupt das Gefühl zu haben, dass du dem anderen wichtig und “was wert” bist und nicht verlassen wirst, aber du willst auf keinen Fall in er unterlegenen Rolle sein.
“Helfersyndrom”, das bedeutet unter anderem, dass du einen großen Teil deines Selbstwertgefühls daraus ziehst, jemandem zum “richtigen Weg” verhelfen zu können und gebraucht zu werden. Gleichzeitig beinhaltet dieses abhängige Brauchen deines Partners ja, dass du die Fäden in der Hand hast. Du glaubst dann erstens, dass er dich nicht zu irgendwas nötigen wird, zweitens, dir sicher sein zu können, dass er dich nicht verlassen wird. Diese Garantie hast du bei Nick nicht, denn er scheint autonom zu sein (autonom: selbstbewusst und selbstständig genug, um sein Leben zu meistern).
Aber lass mich dir eines sagen: In einer wirklichen, guten Liebesbeziehung sind beide Partner autonom. Sie sind aus völlig freien Stücken – aus “Liebe” – zusammen und nicht, weil ihnen der andere etwas gibt, ohne das sie nicht leben könnten.
Es gibt zwei total tolle Bücher, die dies ganz genau beschreiben:
• Die Psychologie sexueller Leidenschaft
• Liebeskummer lohnt sich doch: Co-Abhängigleit in der Beziehung und die Ängste des Inneren Kindes (Koregaon)
Ehrlich gesagt, so einen wie Tom könnte ich keinen Tag lang aushalten. Und ich spüre, dass auch du dich bei ihm fühlst wie in einem lähmenden Netz verstrickt. Du bist nicht wirklich glücklich mit ihm, du hast den Drang, dich zu befreien, aber er hält dich umschlossen wie eine Krake.
Du fragst:
“Wie kann ich jemanden verlassen, der seelisch etwas labil ist?”
Darling, du bist nicht verantwortlich für das Leben und Wohlergehen eines anderen (außer für deine Kinder). Tom muss lernen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und unabhängig zu werden. Selbst wenn er bei einer Trennung zusammenbrechen würde: er stirbt nicht dran. Letztendlich wäre es seine erste Station zur Autonomie.
Und was deine eigene Autonomie betrifft: Mach deine Entscheidungen nicht vom Wohlwollen deiner Eltern abhängig. Du bist alt genug, um dein eigenes Glück zu suchen. Und wenn es in Kanada liegt, werden deine Eltern sich auch damit abfinden. Klar grummeln sie erst mal. Wollen ja ihre Tochter nicht verlieren. Aber letztendlich würden sie sich deinem Glück sicher nicht in den Weg stellen. Falls Nick wirklich der Mann deines Lebens ist. Und das musst du herausfinden. Fahr so bald wie möglich zu ihm und find es heraus. Oder willst du diesem Mann noch die nächsten zehn oder 20 Jahre hinterherweinen?
Trau dich!
Alles Gute
Beatrice Poschenrieder
Hier geht´s zur Fortsetzung: «Hab mich endlich von Tom getrennt, aber er lässt nicht locker»