Etwas in mir zwingt mich auf Abstand zu ihr zu gehen, obwohl ich verliebt bin
Er hatte immer die Sehnsucht nach einer Freundin, aber die Angst vor dem Verlassenwerden war stärker. Jetzt hat er endlich eine und fällt in ein Loch…
Grüß dich Beatrice,
mich quält da etwas und ich weiß nicht, an wen ich mich damit wenden kann. Ich bin nun fast 24 und habe seit 3 Wochen eine Freundin, meine erste „richtige“ Freundin. Eigentlich sollte ich darüber glücklich sein, denn ich habe das Gefühl verliebt zu sein und irgendwie bin ich es auch, aber ich mach mir große Sorgen.
Alles fing damit an, dass meine Mutter sehr früh starb, ich war gerade mal 10 Jahre alt. Mein Vater ist danach erst mal für 1 Jahr auf „Reisen“ gegangen und hat mich und meine jüngere Schwester mit der Trauer alleine gelassen.
Unsere Beziehung zu ihm war noch nie so besonders, da für ihn sein Beruf immer vor der Familie stand. Als er wiederkam, brachte er eine „Stiefmutter“ mit. Nach anfänglichen Schwierigkeiten haben wir sie dann doch lieb gewonnen. Sie hatte sehr viel Verständnis für uns Kinder. Naja das war wohl auch der Grund, warum sich mein Vater dann nach 3 Jahren von ihr getrennt hatte. Danach kam er alle halbe Jahre mit einer Neuen nach Hause, doch ich machte nicht mehr den Fehler, mich einer von ihnen zu öffnen… bis dann eine kam, mit der mein Vater ein Kind zeugte. Auf einmal hatte ich eine neue kleine Schwester, wovon ich am Anfang überhaupt nicht angetan war. Aber ich schloss sie sehr schnell in mein Herz und habe mich sehr viel mit ihr beschäftigt und auch ihrer Mutter war ich nicht mehr abgeneigt. Aber nach 2 Jahren ging auch diese Beziehung meines Vaters in die Brüche. Ich habe versucht, meine kleine Schwester so oft wie möglich zu besuchen, doch ein halbes Jahr nach der Trennung zog ihre Mutter mit ihr ins Ausland und ich verlor sie.
Inzwischen war ich 16, hatte Probleme mit dem Alkohol und 2 „Freundinnen“, mit denen ich Party, Alk und hin und wieder das Bett teilte, ohne irgendetwas wie Liebe zu empfinden… Ich wollte das einfach nicht. Ein Jahr später fand ich zum Glück eine sehr gute Ausbildungstelle und mein Leben änderte sich für mich zumindest zum Teil zum Positiven hin. Ich zog von zu Hause aus, gab das Rauchen und das Trinken auf, arbeitete viel und hart und widmete mich intensiv dem Sport.
In den folgenden fünf Jahren bis heute gab es so einige weibliche Annäherungsversuche, doch ich spielte immer Desinteresse vor. Innerlich hatte ich immer die Sehnsucht nach einer festen Beziehung, von jemanden im Arm gehalten werden und einfach zu lieben… doch meine Angst davor, verletzt zu werden, war stärker als die Sehnsucht. Ich versuchte immer meine Gefühle zu unterdrücken, einzusperren.
Nach einer Weile war es mir sogar gelungen mir selbst vorzumachen, dass in mir diese Gefühle nicht existieren und ich einfach dazu bestimmt bin, alleine zu sein, und es besser so ist. Naja, bis meine jetzige Freundin vor 5 Wochen einen Annäherungsversuch startete, den ich sofort abblitzen ließ. Es gab schon Personen, bei denen es mir leichter fiel, denn sie sieht sehr gut aus und hat viele Charaktereigenschaften, die ich schätze. Auch teilt sie einige für mein Alter etwas ungewöhnliche Interessen wie klassische Musik, Oper, Bücher und „intelligente“ Filme.
Sie scheint es wohl gemerkt zu haben, denn sie blieb hartnäckig. Zuerst gingen wir ins Kino, dann tanzen und danach wieder ins Kino. Nach dem letzten Kinobesuch, wir waren in einer Spätvorstellung, lud ich sie in meine Wohnung ein. Ich habe mit ihr über Literatur diskutiert, die Zeit verging im Nu. Sie wurde müde und lehnte sich an mich, dann fing sie an mich zu streicheln und gab mir einen Kuss und fragte, ob sie bei mir übernachten dürfte. Auf der Couch haben wir dann in einer Umarmung die Nacht verbracht. Da wurde mir klar, dass ich es gerne mit ihr versuchen möchte.
Nach 2 Wochen konnte ich sogar sagen, dass ich verliebt bin. Doch auf einmal falle ich wieder in dieses Loch, ich kann ihr die Worte nicht mehr sagen und brauche auf einmal mehr Abstand. Ich habe das Gefühl, dass dieses Tor, welches meine Emotionen die ganze Zeit zurückgehalten hat und meine Freundin in der Lage war mit viel Geduld zu öffnen, sich langsam wieder schließt. Ich habe Angst davor, dass das wieder geschehen könnte!
Sorry, dass ich dich so vollgetextet habe
Thilo (23)
Grüß dich Thilo,
nein, du textest mich nicht zu… das ist ein sehr sensibler und aufschlussreicher Brief. Ich bin sehr beeindruckt, wie gut du deine inneren Zusammenhänge durchschaust und beschreiben kannst. Denn die meisten Männer mit Nähe- und Bindungsangst sind dazu nicht in der Lage. Ich kenne Männer, die über 40 sind und zig Frauen unglücklich gemacht haben und in tiefsten Innern sehr einsam sind, aber sie haben null Durchblick, was da mit ihnen passiert und warum das nicht klappt mit einer richtigen Beziehung.
Nun zu dir.
Wie du auch selbst mutmaßt, ist die Hauptursache deines Bindungsproblems die Angst, abermals verlassen und verletzt zu werden. Diese Angst hat sich über viele Jahre hinweg geformt und gefestigt und es kann ebenso lange dauern, um sie zu überwinden. Von daher musst du große Geduld mit dir selbst haben und du musst auch deine Freundin darum bitten.
Sprich mit ihr und erkläre ihr alles so, wie du es mir erklärt hast, und bitte um ihr Verständnis. Sie wird dir zwar immer wieder beteuern, dass du bei ihr keine Angst zu haben brauchst, dass sie dich verlässt, aber du musst ihr dann erklären, was ich oben gesagt habe: dass es sehr lang dauert, diese Angst aufzulösen. Das kann man nur wenig über den Kopf steuern.
Du schreibst: „Doch auf einmal falle ich wieder in dieses Loch, ich kann ihr die Worte nicht mehr sagen und ich brauche auf einmal mehr Abstand.“
Du brauchst es nicht dauernd zu sagen. Du brauchst auch nicht in Panik zu verfallen, wenn deine Liebesgefühle nicht jeden Tag gleich stark sind. Die sind nämlich bei fast allen Menschen gewissen Schwankungen unterworfen.
Wenn du ein großes Bedürfnis nach Abstand hast, dann gib diesem lieber nach statt auf Biegen und Brechen Zeit mit deiner Freundin zu verbringen. Denn dann entsteht tatsächlich so eine Art Widerwillen, der der Anfang vom Ende sein kann.
Wichtig ist, dass du ihr dann behutsam und liebevoll erklärst, dass dein Wunsch nach Abstand nicht damit zu tun hat, dass du sie weniger liebst, sondern dass er im Gegenteil deine Liebe zu ihr erhalten hilft. Bitte sie immer wieder um Verständnis und Geduld.
Wichtig ist auch, dass du dich selber immer wieder bewusst daran erinnerst, sie in einem positiven Blick zu behalten. Denn viele Leute mit einem Näheproblem bekommen nach einer Weile, wenn´s ihnen zu eng wird, einen negativen Blick auf den Partner, um sich auf diese Weise 1) inneren Abstand zu verschaffen, damit´s nicht so weh tut, wenn die Trennung droht, 2) eine Art Entschuldigung oder Vorwand zu schaffen, dass man sich innerlich und äußerlich vom Partner distanziert, dass man dessen Erwartungen enttäuscht, vielleicht sogar Schluss macht (unbewusste Motivation: Bevor der andere einen verlässt).
Sprich: Mach dir immer wieder bewusst, dass sie ein liebes und liebenswertes Mädel ist, dass sie dir nichts Böses will und dass es stark von dir selbst abhängt, ob sie dich weiterhin liebt und bei dir bleibt. Du bist kein Kind mehr, das den Launen der Erwachsenen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, sondern du selbst hast es heute in der Hand, dein Glück zu steuern oder zu vergurken.
Ich möchte dir zwei Bücher sehr ans Herz legen, bitte hol sie dir und lies sie komplett durch: Stefanie Stahl, Jein!: Bindungsängste erkennen und bewältigen. Hilfe für Betroffene und deren Partner
und von der selben Autorin:
Vom Jein zum Ja!: Bindungsangst verstehen und lösen. Hilfe für Betroffene und ihre Partner
Liebe Grüße
Beatrice Poschenrieder
Ich danke dir Beatrice,
deine Worte haben mir sehr weitergeholfen. Ich habe mir sehr viel Zeit zum Nachdenken genommen, aber ein Problem zu erkennen, heißt leider noch lange nicht, es auch lösen zu können.
Du hattest recht und mir ist es bis dato noch nicht so 100% bewusst gewesen, dass ich manchmal meine Freundin ansehe, um Negatives an ihr zu finden. Das Paradoxe ist, dass mich vor wenigen Tagen genau diese Dinge noch angezogen haben. Ich versuche damit aufzuhören und alles Positive an ihr in mein Bewusstsein zu holen und zu betonen, damit ich, wenn ich sie wieder „schlecht mache“, wenigstens innerlich gegenargumentieren kann.
Mit ihr darüber geredet habe ich noch nicht, aber ich habe es mir vorgenommen, wenn sich eine gute Gelegenheit bietet, und die Bücher habe ich mir schon gestern bestellt. Ja, ich versuche an mir zu arbeiten und langsam aber sicher aus meiner Pattsituation heraus zukommen, denn bis vor kurzem war es so, dass ich nicht mit jemanden leben konnte, aber ohne jemanden nicht wollte…
Auch dir liebe Grüße, Thilo